Mit der Entwicklung neuer S-Bahnen
für die grossen Ballungszentren Deutschlands, etwa Anfang der sechziger Jahre des 20.Jahrhunderts, musste schon bei Planungsbeginn entschieden werden mit welchem Stromsystem die Triebzüge eingesetzt werden sollten.
Von dieser Entscheidung war die weitere Fahrzeugentwicklung abhängig.
Zur Wahl standen zwei Stromsysteme, mit denen die Bahn bereits ihre Erfahrungen im laufenden Betrieb gemacht hatte:
Foto: Dirk Mattner
- 800 bis 1200 Volt Gleichstrom aus einer (seitlichen) Stromschiene
- 15.000 Volt Wechselstrom mit 16 2/3 Hz aus der Oberleitung (Kupferdraht)
Der Trend bei S-Bahn-Fahrzeugen ging noch in den dreissiger Jahren in Richtung eines Systems, bei welchem die Triebzüge aus einer seitlichen Stromschiene Gleichstrom beziehen.
In Berlin wurde ab Mitte der zwanziger Jahre die "Grosse Elektrisierung" nach dem gleichen Prinzip ausgeführt.
Die Fahrzeuge bestreichen mit einem seitlich an dem Drehgestell angebrachten Gleitschuh eine Stromschiene von unten.
Die Berliner S-Bahnzüge beziehen so 800V Gleichstrom, der in lokalen Gleichrichterwerken aus Wechselstrom gewandelt wird.
Wenn auch heutzutage Gleichrichterwerke wesentlich kompakter sind, so stellt diese Betriebsart doch einen grossen Aufwand für einen elektrischen Zugbetrieb dar.
Da der Gleichstrom durch die Stromschiene grosse Verluste erfährt, müssen Gleichrichterwerke in Abständen weniger Kilometer von einander entfernt errichtet werden, um die Spannung aufrecht zu erhalten.
Foto: Manuel Gründler
Dem Trend zur Gleichstrom-S-Bahn folgte letztendlich damals nur die Hamburger S-Bahn. Die Vorortzüge Hamburgs waren seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wechselstrom unterwegs und bezogen diesen aus einer Oberleitung. In den dreissiger Jahren beschloss man die Hamburger S-Bahn auf Gleichstrombetrieb mit seitlicher Stromschiene umzurüsten. Der Unterschied zu Berlin liegt dabei lediglich an der Spannung von 1200V und in dem das die Stromschienen, statt von unten, seitlich bestrichen werden.
Bis in die fünfziger Jahre hinein war in Hamburg ein Mischbetrieb aus Wechselstrom-Fahrzeugen im Oberleitungsbetrieb und Gleichstrom-Fahrzeugen mit seitlicher Stromabnahme zu beobachten. Der Fahrdraht wurde schliesslich eingeholt und die Fahrleitungsmasten wurden von der hektischen Großstadt ins beschauliche bayerische Voralpenland umgesetzt. Die Hamburger Strommasten wurden an der Strecke Traunstein - Ruhpolding wieder aufgerichtet. Hier läuft der Betrieb mit dem bei der Bahn weitverbreiteten Wechselstromsystem, welches eine Spannung von 15.000 V bei einer Frequenz von 16 2/3 Hertz hat.
Dieses Stromsystem (15.000V, 16 2/3 Hz, Oberleitungsbetrieb) trat seinerseits ab den zwanziger Jahren in Süddeutschland zum Siegeszug an.
Nach dem 2. Weltkrieg favorisierte die junge Bundesbahn dieses System und elektrifizierte ihr Fernverkehrsnetz nach diesem Prinzip.
Hatte das System seine Leistungsfähigkeit im Fern- und Güterverkehr bereits unter Beweis gestellt, so fehlte noch der Nachweis seiner "S-Bahn-Tauglichkeit".
Die erste S-Bahn mit konventionellen Bahnstrom aus der Oberleitung war 1967 im Ruhrgebiet mit Triebzügen der Baureihe ET30 ("Eierköppe") in Betrieb gegangen.
Zum ersten mal bezog ein S-Bahn-Zug keinen besonderen S-Bahnstrom, er bediente sich einfach von dem was auch jede E-Lok bezieht.
Der Vorteil der Nutzung des bestehenden Bahnstroms lag auf der Hand:
Man konnte auf das bereits bestehende Oberleitungs- und Stromnetz, wie z.B. in Stuttgart und München, zurückgreifen und es Bedarfsweise ausbauen.
Die damit verbundene freiere Verfügbarkeit der Fahrzeuge und die höheren Kosten einer separaten Gleichstrombahn waren letztendlich der Grund für die Entscheidung zugunsten des Oberleitungsbetriebs mit dem etablierten Stromsystem.
Foto: Manuel Gründler
Die Triebfahrzeuge der Baureihe ET420/421 waren dann auch die ersten Fahrzeuge, die das volle Potential aus den vorgegeben Bedingungen für einen hochwertigen S-Bahnverkehr ausschöpften.
Schwieriger war aber bei dieser Entscheidung die Realisierung des Oberleitungsfahrbetriebs in den Tunnelabschnitten unter den Innenstädten. So musste z.B. eine Lösung gefunden werden, wie sich vor einer Flussunterquerung ein Wehrkammertor und der Fahrdraht nicht in die Quere kommen. Ein Problem das bei Gleichstrombahnen mit Stromschiene gar nicht auftaucht, denn diese fordern keinen durchgehenden Kontakt zum Stromabnehmer. Gleichstromfahrzeuge können zur gleichen Zeit an verschiedenen Stellen ihren Strom abnehmen. Bricht der Kontakt an einem Schleifkontakt ab, so wird der Strom von einem anderen Stromabnehmer am Zug bezogen, welcher noch bzw. wieder Kontakt hat. Der Schleifbügel des Stromabnehmers eines Oberleitungsfahrzeug muss dagegen immer mit der Oberleitung in Kontakt bleiben. Eine physische Unterbrechung des Fahrdrahts führt unweigerlich zum Totalschaden des Stromabnehmers, welcher stets durch eine Feder den Schleifbügel nach oben an die Fahrleitung drückt. Neue Bauarten von Oberleitungen mussten entwickelt werden um dieses Problem zu lösen. So klappt im Falle einer Schliessung des Wehrkammertores ein Teil der Oberleitung in Form eines Bügels weg, um dem Schott nicht im Wege zu stehen.
Neben dieser speziellen Problemstellung erfordert der Oberleitungsbetrieb eine grössere Tunnelhöhe. Auch hier erwiesen sich die Gleichstrom-S-Bahnen als unkomplizierter, denn niedrigere Tunnelbauten verursachen auch niedrigere Bau- und Unterhaltungskosten.
Sonderbauform für Tunnelstrecken, wie hier auf dem neuen S2-Teilstück nach Filderstadt (29.09.2001).
Foto: Markus O. Robold
Oberleitung in Standartbauform, wie hier bei Unterweilbach auf der Strecke München-Ingolstadt mit S-Bahn-Mischbetrieb (24.12.01).
Foto: Dirk Mattner
Durch innovative technische Entwicklungen konnten aber die Systemvorteile von Gleichstrombahnen mit Stromschienen gegenüber den Bahnen im Oberleitungsbetrieb ausgeglichen werden.
Die Entscheidung, auf 15kV Wechselstrom aus der Oberleitung zu setzen, kann als richtig gewertet werden.
In den S-Bahnnetzen von München, Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt, Hannover, sowie an Rhein und Ruhr können die S-Bahnen oftmals im Mischbetrieb mit dem restlichen Bahnverkehr auf Aussenstrecken die vorhandene Infrastruktur mitnutzen.
Dort wo ein getrennter Betrieb erforderlich scheint, kann in eine eigene Trasse investiert werden.
Die S-Bahnen werden einfach an solchen Punkten aus dem normalen Bahnnetz auf eine eigene Trasse übergeleitet.
S-Bahnstrecken können ihrerseits wiederum bei Störungen auf der Fern- Regional- und Güterbahntrasse mit genutzt werden.
So bietet z.B der Streckenabschnitt München - Maisach, oder Plochingen - Stuttgart die Möglichkeit eines Fahrbetriebes auf insgesamt vier Gleisen.
Eine gute Voraussetzung für eine flexiblere Lösung bei möglichen Betriebsstörungen.
Achtung Hochspannung!
Auch an dieser Stelle sollte noch einmal darauf Aufmerksam gemacht werden, dass sich jedermann von einem Fahrdraht mit einer Spannung von 15.000 Volt tunlichst fernhalten sollte. Es könnte angenommen werden, das Wissen um diese Gefahren wäre allen bekannt, doch die immer wieder vorkommenden tragischen Unfälle - die zumeist tödlich enden - widersprechen dieser Annahme leider Gottes. Eine derart hohe Stromspannung verzeiht keinen Leichtsinn!